"Billigproduktion schafft kein nachhaltiges Wachstum"

Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum – das achte der insgesamt 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung, auf die sich die Vereinten Nationen 2015 nach langem Ringen geeinigt haben, kombiniert zwei anspruchsvolle Postulate, an deren Verwirklichung alle Staaten weltweit bis 2030 arbeiten sollen. Was muss sich verändern, damit die Weltwirtschaft diesem Ziel näherkommt? Hilft die Corona-Pandemie dabei oder erschwert sie die Transformation? Und welchen Beitrag kann die HTW Berlin dazu leisten? Diese Fragen stellten wir dem Volkswirt Prof. Dr. Sebastian Dullien. 

Herr Dullien, stehen menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum nicht eher im Widerspruch zueinander?
Prof. Dr. Sebastian Dullien: Wenn überhaupt, dann ist es ein Scheinwiderspruch. Menschenwürdige Arbeit ist vielmehr die Voraussetzung für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum. Nicht umsonst fallen einem beim Stichwort Wirtschaftswachstum sofort die reichen Länder ein, die eine wesentlich höhere Wertschöpfung erzielen als arme Länder. Der Billiglohnsektor schafft definitiv kein nachhaltiges Wachstum. Nehmen Sie China als Beispiel. Das Land setzt schon lange nicht mehr auf die massenhafte Billigproduktion. Wenn Sie in China heute eine Fabrik besuchen, werden Sie weniger ausbeuterische Praktiken und sicherere Arbeitsplätze antreffen als vor 20 Jahren.

Aber es gibt Länder wie beispielsweise Bangladesch, die ihr Wirtschaftswachstum billigen Löhnen verdanken?
In gewisser Weise ja, aber Sie müssen das natürlich im Zusammenhang betrachten. Ein Arbeitsplatz in der Textilfabrik kann im Vergleich zu, sagen wir, einer Tätigkeit als schlecht bezahlter Tagelöhner in der Landwirtschaft durchaus einen Fortschritt im Sinne des SDG 8 darstellen. War der Tagelöhner besser dran als der Fabrikarbeiter? Nicht notwendigerweise. Man kommt mit menschenwürdiger Arbeit auf jeden Fall weiter mit dem Wirtschaftswachstum.

Und wie definieren Sie menschenwürdige Arbeit?
Für menschenwürdige Arbeit müssen eine Reihe von Kriterien erfüllt sein: Gute Bezahlung, Sicherheit im ökonomischen und arbeitsrechtlichen Sinne sowie in punkto Arbeitssicherheit. Die Arbeit muss menschengerecht sein, also die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erlauben, sowie Möglichkeiten für Weiterbildung und beruflichen Aufstieg bieten. All diese Aspekte sind eine elementare Voraussetzung für die Produktivität von Beschäftigten. Deshalb investieren Unternehmen ja in diese Bereiche. Menschenunwürdige Arbeitsplätze mögen kurzfristig Gewinne bringen; Wachstum entsteht dadurch keines, nicht einmal mittelfristig.

Damit wären wir bei der Definition von Wirtschaftswachstum. 
Bei der Definition von nachhaltigem Wirtschaftswachstum, alles andere ist kein sinnvolles Politikziel. Rein technisch wird Wirtschaftswachstum in Form des Zuwachses des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gemessen. Aber das ist natürlich zu wenig. Meine Studierenden lernen schon im ersten Semester Makroökonomie, dass sie das BIP durch einen Verkehrsunfall in Brandenburg erhöhen, weil Verletzte behandelt und Autos repariert werden müssen, trotzdem aber tunlichst keinen verursachen sollten, weil es danach niemandem besser geht. Man muss andere Kriterien einbeziehen und das geschieht zunehmend auch.

Ich will zwei Modelle nennen. Zum einen den nationalen Wohlstandsindex, der auch Faktoren wie Umweltzerstörung, Umweltbelastung, Arbeitsleid, Kosten von Verkehrsströmen, Pendelei und Gesundheit einbezieht. Zum anderen das Modell des „Magischen Vierecks“, an dessen Entwicklung ich selbst mitgewirkt habe. Hier werden ebenfalls verschiedene Dimensionen von Nachhaltigkeit berücksichtigt. Bei beiden Ansätzen spielt selbstverständlich auch das BIP eine Rolle und das muss es auch. Aber heutzutage spricht niemand nur über das BIP. Das können Sie gut anhand der Debatte um den Kohleausstieg erkennen. Die würde sonst nicht in dieser Form geführt werden.

Die Corona-Pandemie hat Impulse für ein neues Arbeiten gegeben. War das positiv im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung?
Wir haben in den letzten Monaten gesehen, dass der Ort für die Arbeit nicht so wichtig ist, ebensowenig der Zeitpunkt, zu dem wir die Arbeit erbringen. Das verbessert tatsächlich die Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf. Eine Gefahr besteht natürlich darin, dass dies zu einer Entgrenzung von Arbeit führt. Da müssen die Spielregeln jetzt angepasst werden. Wenn das in Unternehmen oder anderen Einrichtungen gelingt, ist das tatsächlich ein erfreulicher Effekt der Corona-Pandemie. Doch sie hatte sehr viele weitere Effekte, weshalb ich den positiven Aspekt nicht in den Vordergrund rücken würde.

Welchen Beitrag kann die HTW Berlin in Lehre und Forschung zur Erreichung des Ziels leisten?
In der Lehre ist es wichtig, Inhalte zu vermitteln, die für die Bedeutung von menschenwürdiger Arbeit und nachhaltigem Wirtschaftswachstum sensibilisieren. Die HTW Berlin ist da meines Erachtens relativ weit. Einige Studiengänge zielen sogar direkt darauf ab, bspw. der Studiengang Regenerative Energien. Aber auch in Studiengängen wie Betriebswirtschaftslehre oder im Master of International Development and Economics decken wir aktuelle Fragen der Gestaltung der Arbeitswelt und des nachhaltigen Wirtschaftswachstums ab. In punkto e-Learning ist die Hochschule recht weit. Auch in der Forschung sehe ich viele einschlägige Projekte, die müssen stetig weiterentwickelt werden.

Glauben Sie persönlich daran, dass wir das SDG 8 erreichen?
In den letzten 25 Jahren hat sich sehr viel verbessert. Die 17 Ziele für eine Nachhaltige Entwicklung weisen auf die richtigen Punkte hin, zahlreiche Probleme sind erkannt und werden angegangen. Ich sehe die globale ökonomische Entwicklung in vielen Bereichen auf dem richtigen Weg. In ökologischer Hinsicht ist es natürlich hoch problematisch, dass sich große Länder wie die USA gar nicht mehr beteiligen. Doch ich bin ein Fortschrittsoptimist.

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